Die Geschichte der Springenden Maus
Eine Geschichte über Traum und Bestimmung, über Mitgefühl und Mut.
Ich werde dir etwas über Geschichten erzählen ... Sie dienen nicht nur der Unterhaltung. Lass dich nicht täuschen. Sie sind alles, was wir haben, um Krankheit und Tod abzuwehren. Man hat nichts, wenn man die Geschichten nicht hat.
Leslie Marmon Silko
amerikanisch-indigene Schriftstellerin
Vor ein paar Tagen habe ich eine Einladung zu einer Willkommensfeier erhalten. Mein langjähriger Freund Tom hat gemeinsam mit seiner Freundin Kerstin einen Jungen namens Vincent bekommen. Das soll nun bald gefeiert werden. Keine Geschenke, hat Tom am Ende unseres Telefonats noch schnell ergänzt. Ganz mit leeren Händen will ich ihnen aber nicht entgegentreten.
Geschichten zählen zu unseren bedeutsamsten kulturellen Werkzeugen. Das wissen Politiker*innen, Firmenbosse und Hollywood. Die Geschichten des Westens sind in den letzten Jahrzehnten ins Wanken geraten. Ökologische und soziale Krisen nagen an unseren Erzählungen. Ich bin überzeugt, dass wir andere Geschichten brauchen. Geschichten, die uns Mut und Hoffnung geben. Geschichten, die uns Landkarte sein können auf unserem Lebensweg. Geschichten, die uns als Menschen wachsen lassen.
In ihrer atemberaubenden Vielseitigkeit vereint die amerikanisch-indigenen Völker die Überzeugung von der Bedeutung der Geschichten.[1] Sprache gilt als heiliger Ausdruck unseres Atems, unserer Lebensenergie. Gedanken und Sprache werden als mächtiges Werkzeug zur Erschaffung der Welt, in der wir leben, verstanden. Geschichten sind ein wesentliches Merkmal der indigenen Wissensweitergabe und des Lernens.
Hier ist also mein Geschenk: Eine Geschichte aus amerikanisch-indigener Tradition. Der Mythos der Springenden Maus. Mündlich überlieferte Geschichten sind flexibel und die Geschichte der Springenden Maus gibt es in vielzähligen Varianten. Ich habe mich für die Version von John Steptoe entschieden und sie nach meinen Vorstellungen auf Deutsch übersetzt.[2]
Lieber Vincent,
mögest du den Mut haben, deine Träume zu verfolgen. Mögest du auf deinem Weg auf Menschen treffen, die das Licht in dir sehen, dich schützend begleiten, dir wertvolle Geschenke machen und dich wachsen lassen.
Das wünsche ich allen Kindern dieser Welt. Den kleinen und den großen.
Die Geschichte von der Springenden Maus
Es war einmal eine junge Maus, die in einem Gebüsch in der Nähe eines großen Flusses lebte. Tagsüber jagten sie und die anderen Mäuse nach Nahrung, nachts versammelten sie sich, um den Geschichten der alten Mäuse zu lauschen. Die junge Maus hörte gern von der Wüste jenseits des Flusses und bekam Gänsehaut bei den Geschichten über die gefährlichen Schatten, die am Himmel lebten. Seine Lieblingsgeschichte aber war die Geschichte der Fernen Länder.
Die Fernen Länder klangen so wunderbar, dass die junge Maus begann, von ihnen zu träumen. Sie wusste, dass sie nie zufrieden sein würde, bis sie dort gewesen wäre. Die Alten warnten, dass die Reise lang und gefährlich sein würde, aber die junge Maus ließ sich nicht beirren. Eines Morgens, noch vor Sonnenaufgang, machte sie sich auf den Weg. Es war Abend, als sie den Rand des Unterholzes erreichte. Vor ihr war der Fluss. Auf der anderen Seite war die Wüste. Die junge Maus spähte in das tiefe Wasser.
„Wie soll ich jemals rüberkommen?“, sagte sie bestürzt.
„Kannst du nicht schwimmen?“ rief eine dunkle Stimme.
Die junge Maus schaute sich um und sah einen kleinen grünen Frosch.
„Hallo“, sagte sie. „Was ist Schwimmen?“
„Das ist Schwimmen“, sagte der Frosch und sprang in den Fluss.
„Oh,“ sagte die junge Maus, „ich glaube nicht, dass ich das schaffen kann.“
„Warum musst du den Fluss überqueren?“ fragte der Frosch, während er das Ufer hinaufhüpfte.
„Ich will ins Ferne Land“, sagte die junge Maus. „Es klingt zu schön, um ein Leben lang zu leben und es nicht zu sehen.“
„In diesem Fall brauchst du meine Hilfe, ich bin der Zauberfrosch. Wer bist du?“
„Ich bin eine Maus“, sagte die junge Maus.
Der Zauberfrosch lachte. „Das ist kein Name. Ich gebe dir einen Namen, der dir auf deiner Reise helfen wird. Ich nenne dich Springende Maus.“
Sobald der Zauberfrosch dies sagte, verspürte die junge Maus ein seltsames Kribbeln an ihren Hinterbeinen. Sie machte einen kleinen Sprung und hüpfte zu ihrer Überraschung doppelt so hoch wie jemals zuvor.
„Danke“, sagte sie und bewunderte ihre neuen kräftigen Beine.
„Gern geschehen“, sagte der Zauberfrosch. „Jetzt betritt dieses Blatt und wir werden gemeinsam den Fluss überqueren.“
Als sie sicher auf der anderen Seite waren, sagte der Zauberfrosch: „Du wirst auf deinem Weg auf Schwierigkeiten stoßen, aber verzweifle nicht. Du wirst das ferne Land erreichen, wenn du die Hoffnung in dir lebendig hältst.“
Die springende Maus machte sich sofort auf den Weg und hüpfte schnell von Busch zu Busch. Die Schatten kreisten über ihr, aber sie vermied es, gesehen zu werden. Sie aß Beeren, wenn sie welche finden konnte, und schlief nur, wenn sie erschöpft war. Tage vergingen. Sie begann sich zu fragen, ob jemals jemand vor ihr die andere Seite der Wüste erreicht hatte. Plötzlich stieß sie auf einen Bach, der durch das trockene Land floss. Unter einem großen Beerenstrauch traf sie eine dicke alte Maus.
„Was für seltsame Hinterbeine du hast“, sagte die dicke Maus.
„Sie waren ein Geschenk des Zauberfrosches“, sagte die Springende Maus stolz.
Die dicke Maus schnaubte: „Was nützen sie dir?“
„Sie haben mir geholfen, weit durch die Wüste zu kommen, und mit etwas Glück werden sie mich in die Fernen Länder tragen“, antwortete die Springende Maus. „Ich bin sehr müde. Darf ich mich hier eine Weile ausruhen?
„Du darfst“, sagte die dicke Maus. Sie bot Springender Maus an, für immer zu bleiben. Doch Springende Maus währte ab: „Ich bleibe nur, bis ich ausgeruht bin. Ich habe das Ferne Land in meinen Träumen gesehen und ich muss mich auf meinem Weg machen sobald ich in der Lage bin.“
„Früher hatte ich auch solche Träume, aber alles, was ich jemals fand, war Wüste“ entgegnete da die dicke Maus.
Die Springende Maus grub sich ein Loch und rollte sich zusammen. Am nächsten Tag warnte die dicke Maus Springende Maus vor einer Schlange am anderen Ufer des Flusses: „Aber keine Sorge“, ergänzte sie. „Sie hat Angst vor Wasser, also wird sie niemals den Strom überqueren.“
Das Leben unter dem Beerenstrauch am Fluss war leicht. Dicke und Springende Maus aßen und schliefen und aßen und schliefen. Dann, eines Morgens, als Springende Maus zum Bach ging, um etwas zu trinken, erblickte sie ihr Spiegelbild. Sie war fast so fett wie die dicke alte Maus geworden.
„Es ist Zeit für mich weiterzugehen“, dachte Springende Maus. „Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um mich unter einem Beerenstrauch niederzulassen.“ Da bemerkte sie, dass sich ein Ast in der Enge des Baches verfangen hatte, der sich jetzt wie eine Brücke über das Wasser spannte. Springende Maus eilte zum Strauch zurück, um die dicke Maus vor der Schlange zu warnen, aber das Mäuseloch war leer. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Springende Maus war zu spät gekommen.
„Arme, alte Freundin“ dachte Springende Maus und eilte davon. Mit wenig Hoffnung hüpfte sie die ganze Nacht hindurch, und als sie am nächsten Morgen sah, dass sie eine Grasebene erreicht hatte, hüpfte sie auf einen großen Felsbrocken, um sich auszuruhen. Da bemerkte sie, dass der Felsbrocken in Wirklichkeit ein zotteliger Bison war, der im Gras lag und stöhnte. Die hüpfende Maus erzitterte bei den schrecklichen Geräuschen.
„Hallo, Großer“, sagte sie tapfer. „Ich bin Springende Maus und reise in das Ferne Land. Warum liegst du hier, als würdest du sterben?“
„Weil ich sterbe“, antwortete der Bison. „Ich habe aus einem vergifteten Bach getrunken, und jetzt kann ich nicht mehr sehen, wo es feines, zartes Gras zum Essen oder süßes Wasser zum Trinken gibt. Ich werde bestimmt sterben.“
Die Springende Maus war traurig, ein so wundervolles Tier zu sehen, das so hilflos war.
„Als ich meine Reise begann“, sagte sie, „hat mir der Zauberfrosch meinen Namen und starke Beine gegeben. Ich werde in die Fernen Länder reisen. Meine Zauberkraft ist nicht so stark wie die des Frosches, aber ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen. Ich gebe dir den Namen Augen einer Maus. Da bemerkte der Bison, dass er wieder sehen konnte. Springende Maus hatte ihm ihr Augenlicht gegeben. Er richtete sich auf.
„Danke“, sagte er. „Du bist klein, aber du hast etwas Großartiges getan. Wenn du unter mir entlanghüpfst, werden die Schatten des Himmels dich nicht sehen, und ich werde dich zu den Bergen führen.“ Die Springende Maus, die nichts mehr sah, tat, was ihr gesagt wurde und hüpfte im Rhythmus der Huftritte des Bisons. So erreichte sie den Fuß der Berge.
„Ich bin ein Tier der Ebene, also muss ich hier anhalten“, sagte Augen einer Maus. „Wie willst du die Berge überqueren, wenn du nicht sehen kannst?“
„Ich weiß, dass es einen Weg gibt“, sagte Springende Maus. Sie verabschiedete sich von ihrem Freund, grub ein Loch und schlief ein.
Am nächsten Morgen erwachte die Springende Maus zu kühlen Brisen, die von den Berggipfeln herabwehten. Vorsichtig machte sie sich auf den Weg in Richtung der Kühle. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Fell unter ihren Pfoten spürte. Sie sprang erschrocken zurück und schnüffelte. Ein Wolf. Sie erstarrte vor Angst. Als nichts passierte, nahm sie ihren Mut zusammen und fragte: „Entschuldigung, ich bin Springende Maus und reise in das Ferne Land. Kannst du mir sagen, wohin ich muss?“
„Das würde ich, wenn ich könnte“, entgegnete der Wolf. „Aber ein Wolf findet seinen Weg mit seiner Nase und ich kann nichts mehr riechen. Ich war einst ein stolzes und faules Geschöpf. Ich habe die Gabe des Riechens missbraucht und so habe ich sie verloren. Ich habe gelernt, nicht stolz zu sein, aber ohne meine Nase finde ich keinen Weg. Ich liege hier und warte auf das Ende.“
Die Springende Maus war traurig über die Wolfsgeschichte und erzählte dem Wolf von dem Zauberfrosch und Augen einer Maus.
„Ich habe noch ein wenig Zauberkraft übrig“, sagte sie, „ich helfe dir gerne weiter. Ich nenne dich Nase einer Maus.“
Der Wolf heulte vor Freude. Die hüpfende Maus konnte hören, wie er die Luft schnüffelte und die Düfte der Berge aufnahm. Sie selbst aber konnte die nach Kiefern duftenden Brisen nicht mehr riechen. Nun konnte sie weder ihre Nase noch ihre Augen benutzen.
„Du bist ein kleines Wesen“, sagte Nase einer Maus, „aber du hast mir ein großes Geschenk gemacht. Du musst mich dafür danken lassen. Komm mit, hüpfe unter mir, wo die Schatten des Himmels dich nicht sehen werden. Ich werde dich durch die Berge führen, dorthin wo die Fernen Länder liegen.“
Also hüpfte Springende Maus im Rhythmus der Pfoten des Wolfes und auf diese Weise erreichte sie die Fernen Länder.
„Ich bin ein Tier der Berge, also muss ich hier anhalten“, sagte der Wolf. „Wie wirst du es schaffen, wenn du nicht mehr sehen oder riechen kannst?“
„Es wird einen Weg geben“, sagte Springende Maus. Dann verabschiedete sie sich von ihrem Freund, grub ein Loch und schlief ein.
Am nächsten Morgen wachte die Springende Maus auf und kroch aus ihrem Loch.
„Ich bin hier“ sagte sie. „Ich spüre die Erde unter meinen Pfoten. Ich höre den Wind, der die Blätter an den Bäumen rascheln lässt. Die Sonne wärmt meine Knochen. Alles ist nicht verloren, aber ich werde nie wieder so sein wie ich war. Wie soll ich es jemals schaffen?“
Springende Maus fing an zu weinen.
Plötzlich hörte sie eine raue Stimme: „Weine nicht, springende Maus, dein selbstloser Geist hat dir große Not gebracht. Es ist aber auch derselbe Geist der Hoffnung und des Mitgefühls, der dich in die Fernen Länder gebracht hat. Du hast nichts zu befürchten.“
Springende Maus schluckte ihre Tränen. Der Zauberfrosch gab ihr den Befehl so hoch zu springen, wie sie nur konnte. Springende Maus tat, was er ihr gesagt hatte und sprang. Sie spürte, wie der Wind sie immer höher in den Himmel hob. Sie streckte ihre Pfoten in der Sonne aus und fühlte die Wärme. Sie fühlte sich kraftvoll vor Freude. Dann begann sie die Schönheit der Welt zu sehen und roch den Duft der Erde und des Himmels.
In der Ferne hörte sie den Zauberfrosch rufen: „Ich gebe dir einen neuen Namen. Du heißt jetzt Adler und du wirst für immer im Fernen Land leben.“
[1] Gregory Cajete. Look to the mountain. An ecology of indigenous education. Trade Paperback. 1994
[2] John Steptoe. The Story of Jumping Mouse. A native American legend retold and illustrated by John Steptoe.